Meine Lebensgeschichte

von

Marret Vögler-Mallok

Es gibt keine Umwege, es gibt nur Wege

Wenn ich nicht daran glauben würde, dass alles, so wie es geschieht, genau so richtig ist, seinen Sinn hat und mich zu dem einzigartigen Mensch macht, der ich bin, dann hätte ich wohl längst schon aufgegeben.

Mein Leben lief selten „rund“, und es gibt viele Lücken in meiner Biographie, die andere stutzig machen könnten, wenn sie von einem „normalen“ Lebenslauf ausgehen: Schule, Ausbildung/Studium, Arbeit, Familie gründen, Haus bauen, Rente.

Kurz vor dem Abitur hat sich das, was meine Seele wohl schon lange gequält hat, Bahn gebrochen: Ich wurde magersüchtig, und die nächsten sechs Jahre meines Lebens waren geprägt von Krankenhausaufenthalten, Therapien, kleinen Fortschritten, aber auch heftigen Rückfällen.

Ich bin, wie man so sagt, „durch die Psychohölle gegangen“ … aber am Ende habe ich mich ganz klar fürs Leben entschieden.

bleiben

Kurz vor meinem 21. Geburtstag war ich dem Tod sehr nah, und ich weiss noch, dass mein Vater damals mit einem Schreiben alle meine Bekannten aufgefordert hat, mich noch einmal mit möglichst viel Aufmerksamkeit zu bedenken, um mir zu zeigen, wie lebens- und liebenswert das Leben doch ist. Damals war ich physisch und psychisch so weit unten, dass es mich emotional nicht so berührt hat wie heute, wenn ich darauf zurückblicke.

Nach Wochen und Monaten der Zwangsernährung hat mich der Geschmack eines Kirschjoghurts zum Weinen gebracht … und ich weiß noch, dass ich während einem meiner späteren Klinikaufenthalte gedacht habe, dass es doch irgendwie gemein ist, dass alle um mich herum essen können, wonach ihnen der Sinn steht, nur ich nicht. Mir war klar, dass dies nur an mir selber lag, und dass ich auch die Einzige sein würde, die etwas daran ändern könnte.

Mit dem Essen habe ich heute keine Probleme mehr. Ich liebe gutes Essen und meine Anorexie-Vergangenheit erscheint mir wie eine ferne und sehr dunkle Erinnerung. Ich habe es geschafft, mein selbstverletzendes Verhalten abzulegen, und ich bin dankbar für die viele Hilfe, die ich dabei von außen erhalten habe. Auf meinem Weg sind mir immer wieder tolle Menschen begegnet – Menschen, die genau wie ich, Probleme damit hatten, ihren eigenen Wert zu erkennen. Aber auch Menschen, die auf diesem Weg schon ein wenig weiter waren und mir (und vermutlich auch anderen) damit Mut gemacht haben.

„Gefühle sind heutzutage ja auch nur noch was für die ganz Mutigen.“

Was ich gelernt habe und auch heute nahezu täglich erfahre: Es ist okay, anders zu sein. Es ist okay, sensibel zu sein. Es ist okay, manchmal zu stolpern und nicht im Strom der vermeintlich immer nur Starken und Leistungsfähigen mit zu schwimmen.

Vielleicht würde ich es tun, wenn ich es könnte. Aber ich kann es nicht.

Und irgendwie fühlt es sich auch gut und richtig an, negative Gefühle zuzulassen, wenn sie da sind, sich – auch vor anderen- Schwäche eingestehen und Zweifel offen kundtun zu können. Weil das nun mal zum Leben dazu gehört. Und weil es letztendlich tatsächlich viel mutiger ist, ehrlich zu sich und anderen zu sein.

Sich mit sich selbst auseinander zu setzen und sich seinen Ängsten zu stellen tut weh. Ich habe in meinem Leben viele Tränen geweint, und es gab mehr als einen Moment, in dem ich geglaubt habe, es niemals zu schaffen. Ich werde nie gesund werden, und das Leben wird immer zu schwer für mich sein – das waren meine Gedanken in solchen Momenten und sind es auch heute noch ab und zu.

„Wo viel Schatten ist, da ist auch viel Licht.“

Auf der anderen Seite bin ich ein sehr lebenshungriger Mensch, der neugierig ist auf alles, was das Leben zu bieten hat. Manchmal bin ich geradezu getrieben davon, alles sehen und alles erleben zu wollen. Das liegt vielleicht daran, dass ich so viele Jahre meines Lebens in mir selbst eingeschlossen war.

Heute drängt es mich raus, ich will fremde Städte und Länder sehen, riechen, fühlen und die Menschen, die sie zu dem machen, was sie sind, kennenlernen. Mein Mann ist manchmal verzweifelt, wenn ich behaupte, unsere Selbstständigkeit nehme uns komplett die Möglichkeit, etwas anderes zu sehen, Und er hat wohl recht: Wir sind fast jedes Wochenende unterwegs, gehen essen, treffen Freunde, machen mehrmals im Jahr kürzere und längere Reisen.

Genauso wie ich mich damals radikal aus dem Leben zu stehlen versucht habe, so stürze ich mich heute mit vollem Elan ins Leben hinein.

extrem glücklich und extrem traurig

„Vielleicht kann man sagen, dass ich ein extremer Mensch bin: extrem glücklich, aber auch extrem traurig. Viel weiß, aber auch viel schwarz.“

Nach Jahren der Therapieabstinenz traue ich mich jetzt, mit Hilfe alternativer Therapiemethoden, noch einmal an meine Verletzungen und Ängste ranzugehen. Es ist immer noch ein langer Weg, aber einer, der sich lohnt, denn eines weiß ich sicher: Das Leben ist lebenswert. MEIN Leben ist lebenswert. Ich bin im Großen und Ganzen gesund, ich habe eine Familie, die mich liebt, und die ich liebe, ich habe einen toleranten Mann, der mich seit Jahren so nimmt, wie ich bin, mit allen Ecken und Kanten, gemeinsam leiten wir mit Erfolge eine Praxis, in der wahnsinnig tolle Menschen arbeiten, ich habe die besten Freunde und ein zuckersüßes Patenkind.

Jeden Morgen wache ich auf und bin dankbar zu leben. Jedes Jahr bin ich dankbar, ein Jahr älter geworden zu sein. Ich habe noch viel vor, und ich bin auf meinem Weg noch ganz am Anfang. Wer weiß, was noch alles möglich ist, wenn ich erst einmal voll „in mein Potential“ gekommen bin.